Die Natur ist politisch. Sie geht uns alle an. Egal, ob wir in der Stadt leben oder auf dem Land, ob wir unseren Salat selbst anpflanzen oder im Supermarkt kaufen, ob wir Spaziergänge im Park mögen oder lieber ins Kino gehen. Was bei uns wächst, grünt und blüht, was quakt, summt und zwitschert, kann uns nicht einerlei sein. Wir alle hängen von der Natur ab, ihrem Reichtum, ihren Leistungen; wir brauchen, Wasser, Luft, Essen und Erholung. Genau genommen sind wir ein Teil von ihr, auch wenn das durch unseren Lebensstil nicht immer gleich ersichtlich ist und wir uns schon längst nicht mehr so verhalten.
Tatsächlich aber übernutzen wir die Natur in atemberaubendem und bisher nie dagewesenen Tempo - und zwar in sehr beschleunigter Weise seit ungefähr 70 Jahren. Wissenschaftler sprechen bereits vom 6. Massenaussterben. Inzwischen ist die Hälfte aller Ökosysteme massiv verändert, eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht. Seit kurzem gibt es auf der Erde mehr vom Menschen hergestelltes Material als Biomasse, nämlich Stoffe wie Beton, Asphalt, Metall, Plastik, Glas oder Papier. Eine Verschiebung von großer Tragweite.
Hauptursachen - die „Big Five“
Gründe dafür gibt es verschiedene, von denen die Landnutzung mit weitem Abstand an der Spitze steht. Der Mensch hat die Erdoberfläche im Laufe der Zeit stark modifiziert. Bei uns im globalen Norden ist es die industrielle Landwirtschaft, die gewissermaßen jeden Grashalm eliminiert hat und auf maximale Effizienz getrimmt wurde. Blühstreifen, Hecken oder gar Brachen sucht man häufig vergeblich; dadurch fehlen Insekten und Vögel Lebensraum und Nistplätze. Und in den Entwicklungsländern frisst sich die Landwirtschaft immer weiter in tropische Wälder, die Horte besonders reicher Vielfalt sind.
An zweiter Stelle kommt die Nutzung von Tieren und Pflanzen: Wir beuten viele Arten schneller aus, als sie sich fortpflanzen können: Das gilt zum Beispiel für Fisch und Holz. So entreißen wir der Natur jedes Jahr unvorstellbare sechzig Milliarden Tonnen an Ressourcen - etwa doppelt so viel wie noch vor vierzig Jahren. Danach kommt bei den Ursachen lange nichts und dann der Klimawandel. Seine Auswirkungen sind derzeit noch begrenzt, aber das wird sich ändern. An vierter Stelle der „Big Five“ steht die allgemeine Verschmutzung der Umwelt, von Pestiziden auf Feldern, Chemikalien in Flüssen bis zum Plastikmüll im Meer. Und schließlich als letzte Ursache können gebietsfremde und invasive Arten der Vielfalt zusetzen, das trifft zum Beispiel auf die Zebramuschel oder die Pazifische Auster zu.
Bollwerk gegen den Klimawandel
Trotzdem geht es beim Thema Nachhaltigkeit bisher hauptsächlich ums Klima und weniger um Biodiversität. Dabei ist ihr Verlust wahrscheinlich sogar die ernstere Krise: Der Klimawandel entscheidet darüber, WIE wir leben, wie wir mir mehr Wirbelstürmen, größerer Trockenheit, neuen Krankheiten oder weniger produktivem Land zurechtkommen. Der Artenschwund entscheidet darüber, OB wir als Menschheit überleben.
Ohne rasche und durchgreifende Maßnahmen zu ihrem Erhalt entziehen wir uns die eigene Lebensgrundlage. Wenn Bienen nicht mehr bestäuben, wenn Böden ausgelaugt und Meere überfischt sind, dann wird es eng für uns Menschen. Das sollten wir uns rasch bewusst machen.
Nicht hilflos ausgeliefert
Doch dagegen können wir etwas tun. Wir sind dieser Entwicklung nicht hilflos ausgeliefert. Das zeigen verschiedene wissenschaftliche Modelle. Allerdings muss das Thema dafür raus aus seiner Nische und zu einem politischen Top-Thema werden. Genau darin liegt die Absicht des neuen Buches „Vom Verschwinden der Arten“ - mehr Bewusstsein schaffen für die - politische - Bedeutung von Biodiversität. Dafür ziehen wir (die Professorin Katrin Böhning-Gaese und die Journalistin Friederike Bauer) Bilanz, zeigen auf, wo wir stehen, wie dramatisch der Naturverlust ist und wo die Ursachen liegen. Dabei belassen wir es jedoch nicht, sondern präsentieren auch Lösungen.
Dazu gehört als Fazit am Ende ein Zehn-Punkte-Plan der wichtigsten Maßnahmen, um so schnell wie möglich eine Kehrtwende zu erreichen. Zu ihnen zählen Aktivitäten auf politischer Ebene wie: 30 Prozent der Erde unter Schutz stellen; den Anteil des Ökolandbaus bis 2030 global auf 25 Prozent erhöhen, derzeit liegt er bei 1,5 Prozent; naturschädliche Subventionen zum Beispiel für die Landwirtschaft, für fossile Energien oder Dienstwagen zurückfahren.
Jede und jeder kann etwas beitragen
Aber auch jede und jeder Einzelne kann einen Beitrag leisten, unter anderem durch einen radikal geringeren Fleischkonsum von höchstens 300 Gramm pro Person und Woche, von möglichst geringer Verschwendung von Lebensmitteln und durch grüne Balkone, Gärten, Seitenstreifen, Hinterhöfe, die liebevoll, aber nicht übertrieben akkurat gepflegt werden.
Reißen wir das Ruder rum, sichern unsere Zukunft, setzen neue Prioritäten in Politik, Wirtschaft - und in letzter Konsequenz bei uns allen, indem wir der Natur wieder mehr Raum geben.
Friederike Bauer und Katrin Böhning-Gaese: Vom Verschwinden der Arten. Der Kampf um die Zukunft der Menschheit. Klett-Cotta Verlag. Stuttgart, 2023. ISBN: 978-3-608-98669-3
Professorin Dr. Katrin Böhning-Gease hat am 11.10.2023 zum Start des Projktes "Vielfalt wächst - Klimabewusstsein erden" online aus dem oben beschriebenen Buch und von Teilen ihrer Forschungsarbeit über die wichtige Bedeutung der Biodiversität und dem Schutz der Artenvielfalt berichtet.